Mittwoch, 13. Oktober 2010

Sturmwarnung

"Keine Sorge, wir hören auf zu reden, wenn sie anfangen zu spielen!", sagte mein schmächtiger Nachbar sonnig, während er mit seinem Ellbogen vor meinem Gesicht herumfuhrwerkte und sich lautstark über meinen Kopf hinweg mit dem Nachbarn auf der anderen Seite unterhielt. Tatsächlich hielt er dann auch brav den Mund - zog aber seine Schuhe aus, hampelte auf seinem Sitz herum und kratzte sich fortwährend, als sei er ein flohgeplagter Zweimetermann in der Transatlantik-Touristenklasse.
Das nun nicht etwa auf dem Great Lawn, sondern in der noblen Avery Fisher Hall, wo die NY Philharmonics unter Alan Gilbert Mahler im Sonderangebot spielten.
Glücklicherweise ist die Sechste (die mit dem Hammer) nicht direkt eine Kammersymphonie.
Der Titel "Tragische" ist Mahler anscheinend herausgerutscht, bevor er sich daran erinnerte, daß er keine Programmmusik mehr schrieb, ist aber angemessen. Laut Alma Mahler schrieb er sie gewissermaßen als Begleitmusik für die Schicksalsschläge (siehe Hammer), die ihn im folgenden Jahr treffen sollten. Des Weiteren interpretiert Frau Mahler das einzige etwas hoffnungsvollere Thema des Werks - das Seitenthema des Kopfsatzes - kurzerhand als Hommage an sie selbst. Nun ja. De mortuis…
Ansonsten gibt es kompromißlose Mahlereien, von brutalen Märschen über grell satirische Einwürfe zu pervertierten Chorälen, einen überraschend schlicht-lyrischen langsamen Satz und eines der unkomischsten Scherzi, das ich je gehört habe - Satztitel "Wuchtig". Selbst das altväterische Tänzchen im Trio marschierte mit den strengen Streichertritten des Kopfsatzes.
'Tragisch' ist im Wesentlichen die Abkehr vom Wunderhorn-Kosmos der frühen Symphonien und die Verweigerung der finalen Apotheose: das Werk endet nach einem ausschweifenden  - und leicht chaotischen -  Finalsatz abrupt und düster. Man spielte durchweg grimmig, vielleicht stellenweise etwas zu grimmig.
Wenn sie gut drauf sind, ist gegen die NYPhil nichts einzuwenden - und wer bei Mahlers Orchestrierung nicht gut drauf ist, dem ist auch sonst nicht zu helfen. Das reichte von den sehr prominenten wacker grummelnden Kontrabässen bis zu den durchweg schönen Bläsersoli - wann hört man sonst mal eines von der Baßtuba?
Der NYPhil-Schlagzeuger für alle Fälle schlenderte im Hintergrund herum, ging zwischendurch scheinbar eine
rauchen, oder vielleicht doch eher die (eher zu diskreten) Kuhglocken betätigen, stand dann aber mit hocherhobenem Riesenschlegel bereit und drosch auf seine Holzkiste ein, daß der Saal bebte.
Schon den ganzen Tag hatte das Radio Sturmböen, Sintfluten und Verkehrchaos für den Abend angekündigt.
Draußen dräuten ein rotwolkiger Himmel und das von der Wolkendecke geköpfte Empire State Building. Nachts regnete es wohl ein bißchen. Mahler schlägt Wetter. Hammermäßig.

Freitag, 8. Oktober 2010

Public Viewing

Beim großen open-air-Spektakel der New York Philharmonics herrscht Picknickpflicht - ich griff also eine Flasche pappsüßen Importrieslings (trau nie deinem Weinhändler) und eine Tüte Cracker und traf mich mit zwei Freunden auf der Wiese im Central Park, zusammen mit einem Gutteil der Stadtbevölkerung.

Alte open-air-Weisheit: Selbst wenn man das Konzert in der Sahara gäbe - wenn es regnen kann, wird es regnen. Erstaunlicherweise war trotz der Sintflut am Vormittag der Great Lawn noch kein Great Puddle, da müssen sie wohl zwischenzeitlich das Gras gefönt haben - und es blieb mehrheitlich trocken, nur das Feuerwerk fiel aus: aber wozu braucht man ein Feuerwerk, wenn man das Konzert in der südlichen Einflugschneise von La Guardia gibt?

Es ging los mit ausführlichen Grußworten der Philharmoniker, der Stadt Shanghai und der Stadt NY. An diesem Abend gab es zwei Orchester zum Preis von einem, aufgrund der unsicheren Wetterlage wurde den Gästen der Vortritt gelassen.

Das Shanghai Phiharmonic im direkten Vergleich mit den New Yorkern: stramme Tempi, weniger rund im Klang - soweit man das über die Lautsprecher mitkriegen konnte. Das Programm war herrlich absurd:
Die Tannhäuser-Ouvertüre gefolgt von 3 Opernnummern (Largo al factotum, ein generischer Gounod aus Roméo et Juliette und La ci darem la mano), eine Ode an die Expo und zum krönenden Abschluß der Herr Lang Lang mit der Rhapsody in Blue.  Besagte Ode war ein grandioses postkommunistisches Pasticcio, zusammengeklaubt aus allem, was die europäische Hoch- und Spätromantik so zu bieten hat. Irgendwann fingen sie dann auch noch an zu singen.
Man sollte die Zuschauer nicht per SMS über die Zugabe abstimmen lassen: statt Chopin gab es ein chinesisches Volkslied mit noch mehr pathetisch-pianistischem Rumgeklingel.

Es folgte eine üppig bemessene Umbaupause - braucht man echt 45 Minuten, um ein Standardsymphonieorchester gegen ein anderes auszutauschen?
Zeit  genug für alle Kinder, sich mit regenbogenfarbene LED-Ratschen und Lichtschwertern einzudecken, die man beim Tannhäuser hätte schwenken können, wenn er programmgemäß nach der Pause erklungen wäre.

Schließlich und endlich spielten NY Philharmonics  ein klassisches Outdoor-Programm mit Schmackes und Ortsbezug: die Polonaise aus Eugen Onegin, die Symphonic Dances aus der West Side Story und zum Abschluß Ravels Boléro. Ehrlich gesagt find ich den nachts um 11 eher anstrengend und öde - und entweder ist er passagenweise übermäßig bitonal oder die Pikkoloflöte hatte sich verzählt. Der Tschaikowsky ist bei mir etwas negativ belegt - nicht, daß die New Yorker zwischendurch hätten abbrechen müssen… Der Bernstein machte mir da mehr Freude, und sie spielten ihn mit Gusto - man will ja schließlich nicht, daß der Herr Komponist sich 2 Kilometer weiter im Grabe umdreht (Achtung, Ortsbezug!!)

Die Nachbarn hielten sich nicht im Geringsten an die Bitte der Veranstalter, Konversationen auf das Nötigste zu beschränken - mit beeindruckend tragfähigen Stimmen. Wenn nicht gerade forte gespielt wurde, bezwangen sie mühelos den Lausprecherturm direkt vor uns. Hier eine kleine Gegenüberstellung von Musik und Gesprächsthemen:
Tannhäuser - Diäteis
Gounod - Würstchen
Gershwin - Hamburger
Bernstein - Nerds und Harvard MBAs
irgendwo dazwischen: Seafood
Böse Blicke meinerseits halfen nicht das Geringste. Jammert hier noch jemand über Zürcher Abonnenten?