Dienstag, 30. September 2008

Endstation Schwindsucht


Heute abend fand auf dem Züricher Hauptbahnhof eine Aufführung von La Traviata statt.
Arte übertrug live und stellte auch gleich ein Interview mit dem Regisseur online.
Die Sänger durften gegen den Bahnhofslärm mit Mikro ansingen, für den Kontakt zum Dirigenten sorgten 3 Subdirigenten, und der Beginn wurde durch einen Startschuß angezeigt. Außerdem war es saumäßig kalt.
Die Inszenierung brilliert mit 15 HD-Spider- und Steadycams, kilometerweise Kabel, Legionen von Mikrophonen, Handfunkgeräten, Scheinwerfern und ein paar prominenten Sängern (die haben dann auch schön gesungen). Durchreisende werden gebeten, nur im äußersten Notfall mitzusingen.
Es bleibt eine marginale Frage: wieso?
Wenn ich mich recht erinnere, hat Zürich ein ganz brauchbares Opernhaus, in dem man auch ohne Schnellzüge und Rolltreppen Verdi spielen kann - auch wenn das Finale der Traviata im Zug den Vorzug hätte, daß man verblichene Halbweltdamen an der Station Hauptfriedhof gleich entsorgen kann. Praktisch.
Auch die Deutsche Bahn könnte sich ein Beispiel nehmen: Statt der ewigen technischen Probleme könnte man als Verspätungsgrund "Rigoletto" oder "Parsifal" angeben.
So ein Bahnhof ist auch ein intimer und charmanter Opernschauplatz - im edlen Wettstreit mit dem "Hamlet im Bahnhofsklo" des Konstanzer Stadttheaters oder Shakespeare in the Parking Lot.
Immerhin will man mit diesem Event die Leute "da abholen, wo sie ihr tägliches Leben verbringen" und quasi direkt in das elitäre und ach so überteuerte Opernhaus verfrachten. Aber was soll man von einer Oper haben, die über einen ganzen Bahnhof zerpflückt wird, wie die Ausreißergruppe der Tour de France mal kurz ohne Orchester am Publikum vorbeigaloppiert und nicht einmal per Großbild übertragen werden kann, weil es sonst Rückkopplungen gäbe? Ironischerweise kam man in den vollen Genuß nur vor der heimischen Glotze - da war es dann aber auch überraschend eindrucksvoll. Verdi ist nur schwer totzukriegen.
Die Holzklasse im vornehmen Züricher Opernhaus kann man sich übrigens schon für ca. 30 Franken leisten - das entspricht 3 Kinokarten. Ebenso sind die Londoner Proms in the Park und das Bayreuther Public Viewing erprobte Methoden der öffentlichen Klassikverbreitung.
Arte bezeichnet das Event als "ein Experiment, das man noch nie zuvor versucht hat" - die Harvard-Fachschaft vergibt für solche Experimente jährlich die IgNobel Prizes.
Wir überlassen den Regisseur das Schlußwort: "…das war die Ursprungsidee … daß die Leute die Züge verpassen, weil sie nicht mehr durchkommen."

Der Mitschnitt der "spektakülären Aufführung" ist übrigens noch 3 Wochen auf Arte.tv verfügbar.

Sonntag, 7. September 2008

Berlin Berlin

Man fährt in die Hauptstadt, um sich Kultur zu geben - nun ja, nicht nur, aber auch, und so erwartet man doch einiges, was man in der Provinz nicht zu sehen bekommt.
Zum Beispiel: ein Gratiskonzert auf dem Bebelplatz, gesponsert von einem bayerischen Automobilhersteller, der vor dem Konzert fleißig Werbung machen durfte, aber das nahm man gern in Kauf, die größere Sorge war, wie man Beethovens Neunte ohne Sonnenstich oder klaustrophobische Anfälle überstehen kann.



Auftritt Barenboim mit seiner Staatskapelle, nur über die Leinwand zu erkennen, aber auch das ist durchaus nett, schließlich kommt es bei einem solchen Anlass auf die Atmosphäre an und die ließ nichts zu wünschen übrig, die Leute packten stilvoll in weiß gekleidet ihre Picknickkörbe und Champagnerflaschen aus, so dass man hätte neidisch werden können. Bei dritten Satz schwächelten wir, aber da wir Beethoven nicht für den Rest unseres Leben mit einem Blick auf nackte Füße in Verbindung bringen wollten, standen wir bald wieder auf und genossen das große Finale stehend, mit Blick auf die Uhr, um uns danach am Prenzlauer Berg den Bauch mit indischen Köstlichkeiten vollzuschlagen.
Am nächsten Tag Führung in der Philharmonie, der demokratischen, der schlaue Architekt hat es so eingerichtet, dass die einzigen Plätze mit schlechter Akustik die abgetrennten für die VIPs sind.
Sympathisch.
Ein halbes Streichquartett musste im Kammermusiksaal natürlich gleich noch so tun als ob.




Die Akustik konnten wir am Dienstag beim Konzert des mit vielen Vorschusslorbeeren bedachten Simon Bolivar Youth Orchestra unter Gustavo Dudamel (oder auch: der Hampelmann) testen - sie ist tatsächlich so gut, dass die von mir ohnehin nicht mit viel Liebe betrachteten Blechbläser bis in den letzten Winkel in ohrenbetäubender Lautstärke vordringen. Strawinskys "Sacre du Printemps" war vor allem laut, Tschaikowskys Fünfte nicht, aber die drei Zugaben wurden mit großer Begeisterung gespielt - zwei südamerikanische Showeinlagen inclusive tanzender Musiker und als krönenden Abschluss den Radetzky-Marsch.
Hat man da noch Töne?

Mittwoch, 3. September 2008

Ein Lied geht um die Welt, oder: Rette sich, wer kann

Gründe, den "Sommarpsalm" nicht auswendig zu lernen:
  • das Ding geht los mit "En vänlig grönskas rika dräkt har smyckat dal och ängar..." und 3 verflixt schwedische Strophen weiter
  • ich bin Naturwissenschaftler und nicht Linguist
  • man muß nicht wissen, wie es geht, solange man weiß, wo es steht
Gründe, warum man zähneknirschend die Noten wälzt:
  • das Lied ist eine der 138 inoffiziellen schwedischen Nationalhymnen
  • der Dirigent hat es befohlen
Warum am Ende die Faulheit siegte:
  • lieber noch mal Martin und Poulenc geübt
  • wenn ich mich neben eine stimmstarke Schwedin stelle und "köttbullar, starköl, bork, bork, bork" brummle, merkt das auch keiner
Am Konstanzer Bahnhof befand man, daß die effektivste Lernmethode lautes Singen in Endlosschleife sei. Dieser Meinung war man (zunehmend unter "die gehören nicht zu uns" einzuordnen) auch noch im ICE, auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof, in der S-Bahn und auf dem Flughafen hinter dem Sixt-Reklameauto. Irgendwann fragten wir uns, ob wir schon unter Terrorverdacht stehen. Unter Mitwirkung kreativer Schweden und meiner Mitbewohnerin entstand daraus folgender schlechte-Fernsehserien-inspirierter Dialog.

Agent an MI6CIAGSG9KGB-Hauptquartier (HQ): "Report: Suspicious singing activities all over southern Germany."
HQ:"Get more specific?"
Agent: "Traced it from Konstanz to Stuttgart. Sounds ... Swedish ... somehow." ...
Agent: "We lost the song! Repeat: We LOST the song!!"
HQ: "Capture that song, dead or alive! ... Strike that out. The singers."
Agent: "Found it. It's in Stockholm. Where's that again?"
HQ: "Code RED! Surround Sweden! Surround Sweden!!"
Einige Truppenbewegungen später. Die Spezialeinheit für musikalische Härtefälle stürmt ein Theater in Stockholm.
Agent: " Caught in the act. FREEZE!"
Laaange Fermate.
Agent: "Drop your music. Slowly."
  

Ansonsten:
  • Yep, die Schweden können singen. Und feiern.
  • Stockholms Altstadt sieht aus wie Norditalien auf Eis.
  • Hochzeit heißt auf Schwedisch Bröllop.
  • Ich habe einen Schokoladen-Nobelpreis.
  • Der Domdekan bloggt.
  • Schön wars.