Mittwoch, 13. Oktober 2010

Sturmwarnung

"Keine Sorge, wir hören auf zu reden, wenn sie anfangen zu spielen!", sagte mein schmächtiger Nachbar sonnig, während er mit seinem Ellbogen vor meinem Gesicht herumfuhrwerkte und sich lautstark über meinen Kopf hinweg mit dem Nachbarn auf der anderen Seite unterhielt. Tatsächlich hielt er dann auch brav den Mund - zog aber seine Schuhe aus, hampelte auf seinem Sitz herum und kratzte sich fortwährend, als sei er ein flohgeplagter Zweimetermann in der Transatlantik-Touristenklasse.
Das nun nicht etwa auf dem Great Lawn, sondern in der noblen Avery Fisher Hall, wo die NY Philharmonics unter Alan Gilbert Mahler im Sonderangebot spielten.
Glücklicherweise ist die Sechste (die mit dem Hammer) nicht direkt eine Kammersymphonie.
Der Titel "Tragische" ist Mahler anscheinend herausgerutscht, bevor er sich daran erinnerte, daß er keine Programmmusik mehr schrieb, ist aber angemessen. Laut Alma Mahler schrieb er sie gewissermaßen als Begleitmusik für die Schicksalsschläge (siehe Hammer), die ihn im folgenden Jahr treffen sollten. Des Weiteren interpretiert Frau Mahler das einzige etwas hoffnungsvollere Thema des Werks - das Seitenthema des Kopfsatzes - kurzerhand als Hommage an sie selbst. Nun ja. De mortuis…
Ansonsten gibt es kompromißlose Mahlereien, von brutalen Märschen über grell satirische Einwürfe zu pervertierten Chorälen, einen überraschend schlicht-lyrischen langsamen Satz und eines der unkomischsten Scherzi, das ich je gehört habe - Satztitel "Wuchtig". Selbst das altväterische Tänzchen im Trio marschierte mit den strengen Streichertritten des Kopfsatzes.
'Tragisch' ist im Wesentlichen die Abkehr vom Wunderhorn-Kosmos der frühen Symphonien und die Verweigerung der finalen Apotheose: das Werk endet nach einem ausschweifenden  - und leicht chaotischen -  Finalsatz abrupt und düster. Man spielte durchweg grimmig, vielleicht stellenweise etwas zu grimmig.
Wenn sie gut drauf sind, ist gegen die NYPhil nichts einzuwenden - und wer bei Mahlers Orchestrierung nicht gut drauf ist, dem ist auch sonst nicht zu helfen. Das reichte von den sehr prominenten wacker grummelnden Kontrabässen bis zu den durchweg schönen Bläsersoli - wann hört man sonst mal eines von der Baßtuba?
Der NYPhil-Schlagzeuger für alle Fälle schlenderte im Hintergrund herum, ging zwischendurch scheinbar eine
rauchen, oder vielleicht doch eher die (eher zu diskreten) Kuhglocken betätigen, stand dann aber mit hocherhobenem Riesenschlegel bereit und drosch auf seine Holzkiste ein, daß der Saal bebte.
Schon den ganzen Tag hatte das Radio Sturmböen, Sintfluten und Verkehrchaos für den Abend angekündigt.
Draußen dräuten ein rotwolkiger Himmel und das von der Wolkendecke geköpfte Empire State Building. Nachts regnete es wohl ein bißchen. Mahler schlägt Wetter. Hammermäßig.

Freitag, 8. Oktober 2010

Public Viewing

Beim großen open-air-Spektakel der New York Philharmonics herrscht Picknickpflicht - ich griff also eine Flasche pappsüßen Importrieslings (trau nie deinem Weinhändler) und eine Tüte Cracker und traf mich mit zwei Freunden auf der Wiese im Central Park, zusammen mit einem Gutteil der Stadtbevölkerung.

Alte open-air-Weisheit: Selbst wenn man das Konzert in der Sahara gäbe - wenn es regnen kann, wird es regnen. Erstaunlicherweise war trotz der Sintflut am Vormittag der Great Lawn noch kein Great Puddle, da müssen sie wohl zwischenzeitlich das Gras gefönt haben - und es blieb mehrheitlich trocken, nur das Feuerwerk fiel aus: aber wozu braucht man ein Feuerwerk, wenn man das Konzert in der südlichen Einflugschneise von La Guardia gibt?

Es ging los mit ausführlichen Grußworten der Philharmoniker, der Stadt Shanghai und der Stadt NY. An diesem Abend gab es zwei Orchester zum Preis von einem, aufgrund der unsicheren Wetterlage wurde den Gästen der Vortritt gelassen.

Das Shanghai Phiharmonic im direkten Vergleich mit den New Yorkern: stramme Tempi, weniger rund im Klang - soweit man das über die Lautsprecher mitkriegen konnte. Das Programm war herrlich absurd:
Die Tannhäuser-Ouvertüre gefolgt von 3 Opernnummern (Largo al factotum, ein generischer Gounod aus Roméo et Juliette und La ci darem la mano), eine Ode an die Expo und zum krönenden Abschluß der Herr Lang Lang mit der Rhapsody in Blue.  Besagte Ode war ein grandioses postkommunistisches Pasticcio, zusammengeklaubt aus allem, was die europäische Hoch- und Spätromantik so zu bieten hat. Irgendwann fingen sie dann auch noch an zu singen.
Man sollte die Zuschauer nicht per SMS über die Zugabe abstimmen lassen: statt Chopin gab es ein chinesisches Volkslied mit noch mehr pathetisch-pianistischem Rumgeklingel.

Es folgte eine üppig bemessene Umbaupause - braucht man echt 45 Minuten, um ein Standardsymphonieorchester gegen ein anderes auszutauschen?
Zeit  genug für alle Kinder, sich mit regenbogenfarbene LED-Ratschen und Lichtschwertern einzudecken, die man beim Tannhäuser hätte schwenken können, wenn er programmgemäß nach der Pause erklungen wäre.

Schließlich und endlich spielten NY Philharmonics  ein klassisches Outdoor-Programm mit Schmackes und Ortsbezug: die Polonaise aus Eugen Onegin, die Symphonic Dances aus der West Side Story und zum Abschluß Ravels Boléro. Ehrlich gesagt find ich den nachts um 11 eher anstrengend und öde - und entweder ist er passagenweise übermäßig bitonal oder die Pikkoloflöte hatte sich verzählt. Der Tschaikowsky ist bei mir etwas negativ belegt - nicht, daß die New Yorker zwischendurch hätten abbrechen müssen… Der Bernstein machte mir da mehr Freude, und sie spielten ihn mit Gusto - man will ja schließlich nicht, daß der Herr Komponist sich 2 Kilometer weiter im Grabe umdreht (Achtung, Ortsbezug!!)

Die Nachbarn hielten sich nicht im Geringsten an die Bitte der Veranstalter, Konversationen auf das Nötigste zu beschränken - mit beeindruckend tragfähigen Stimmen. Wenn nicht gerade forte gespielt wurde, bezwangen sie mühelos den Lausprecherturm direkt vor uns. Hier eine kleine Gegenüberstellung von Musik und Gesprächsthemen:
Tannhäuser - Diäteis
Gounod - Würstchen
Gershwin - Hamburger
Bernstein - Nerds und Harvard MBAs
irgendwo dazwischen: Seafood
Böse Blicke meinerseits halfen nicht das Geringste. Jammert hier noch jemand über Zürcher Abonnenten?

Sonntag, 16. Mai 2010

Lustige Seefahrt

Kleines Wörterbuch Wagnerscher Onomatopoietik:
Wallala weiala weia!: "Das Springen vom Beckenrand ist verboten! Der Bademeister."
Johohohe! Johohohe! Johohe!: "Mary, ich habe keine Zeit, mein Zimmer aufzuräumen, ich muß mich mit einem unheimlichen Fremden verloben und danach ins Wasser gehen!"
Hussahe! - Hallohe!: "Sagen Sie, Smutje, haben Sie etwa in mein Bier gespuckt?" - "Aber nein, Herr Steuermann, das amerikanische Bier ist grundsätzlich eher wäßrig!"
Hohojo! Hallohoho Jollohohoho!: "Mein Gott, der schwarz-rote Flitzer mit niederländischem Kennzeichen hält direkt auf uns zu! Ist das jetzt Lee vor Luv oder Backbordbug vor Steuerbordbug?"
Hojotoho! Heiaha! Heiahaha!: "Könnten Sie bitte einen Augenblick mein Pferd halten? Ich muß mir dringend die Nase pudern."
Bitte nichts verwechseln - es dürfte das Verständnis von Wagner-Opern beträchtlich erschweren. Die Roktett-Außenstelle New York darf sich da keine Blöße geben und war anläßlich des Fliegenden Holländers entsprechend vorbereitet.

Die Oper wurde konzeptgemäß ohne Pause durchgespielt, was vor Beginn zu einer wahren Völkerwanderung auf gewisse Örtlichkeiten führte. Zwischen den Akten gab es verzweifelte und geräuschvolle Fluchtversuche derjenigen, die das Programmheft nicht gelesen hatten - was das Met-Orchester wirklich nicht verdient hatte: auch am vorletzten Abend der Saison spielte man vorzüglich, vielleicht etwas dominant in Bässen, Blech und Schlagzeug, was mir bei einer so düster-baßlastigen Oper aber eigentlich ganz gut gefällt.
Manche Tempi wirkten nicht ganz stimmig - etwa ein sehr behäbiger Holländer nach einer hübsch flotten Ouverture - und im Wettstreit von Matrosen- und Geisterchor (aka "One song to the tune of another") wurde auch jenseits der Partitur noch Verwirrung gestiftet.
Die Inszenierung war verhältnismäßig rezent (Everding 1989) und in angenehmer Abwechslung zu den Puppenhausbühnen meiner bisherigen Besuche (Bohème, Lulu) im Breitwandformat. Leider köpfte das tief abgehängte Bühnenportal für alle Ränge ab Balcony aufwärts höher aufgestellte Sänger oder versperrte gleich ganz den Blick - wie genau das Regieteam also die fachgerechte Entsorgung eines nicht nur stimmgewaltigen Soprans im Finale bewerkstelligte, konnte ich leider nicht herausfinden. Kulissen und Ausstattung waren frühindustriell-realistisch und dezent klaustrophobisch - eigentlich ganz passend.
Schön fand ich die Lichtregie, die mit ein paar einfachen Projektionstricks einen soliden Schiffsbug aus dem Nichts zauberte, oder - plakativ, aber wirksam - Daland und den Holländer im 2. Akt in warmen und kalten Farben kontrastierte. Die geisterhafte Holländercrew im 3. Akt - in den Neonfarben einer 90er-Disco - wirkte allerdings ziemlich albern.
Deborah Voigts hochgelobte Senta fand ich zu Beginn enttäuschend: Mächtig und herb, hatte sie keine Probleme, sich gegen das Orchester zu behaupten, aber wo war das in den lyrischen Passagen der Ballade unerläßliche piano (...das ihr der Chor im Übrigen wie aus dem Lehrbuch vorexerzierte)? Des weiteren läßt ein Vibrato mit dem gefühlten Ambitus einer kleinen Terz Raum für Interpretation, aber sie schien mir zuweilen doch arg zu destonieren. Später fing sie sich, sang und spielte in den Ensembles mit schöner Dramatik und in passenden Momenten mit gewaltiger Durchschlagkraft.
Juha Uusitalo, der Holländer, hat einen unterweltlich karg-schwarzen Baßbariton, der ihn vorzüglich vom Rest des Ensembles absetzt. Leider ist seine Stimme nicht sonderlich groß, insbesondere in den Höhen wurde er vom Orchester regelrecht plattgewalzt. In seiner Auftrittsarie ist das sehr schade, bei seiner Demaskierung am Ende - noch schader. Ein Problem, das Hans-Peter König nicht hatte: er präsentierte einen großen, runden und sympathisch bourgeoisen Daland. Darstellerisch neigte er zum Dirigieren - vielleicht wollte er die schlechte Presse für Kazushi Ono ausgleichen.
Philip Webb versuchte sich an einem lyrischen Erik, neigte aber zum Quaken im hohen Register. Etliche Legatopassagen scheiterten auch an seinen Sprachschwierigkeiten, da stotterte und bellte es doch gewaltig. Laut seiner Vita scheint er im italienischen Fach besser zu Hause zu sein.
Nett, aber manchmal etwas wackelig: der Nachwuchssteuermann (Russell Thomas), von Mary (Wendy White) habe ich leider fast nichts gehört - für die billigen Plätze der Met ist neben dem Opernglas wohl auch ein Hörrohr unerläßlich.

Montag, 10. Mai 2010

Kreatives Versingen und Verhören...

Chorsänger kennen das Phänomen: Was man glaubt, zu singen, ist selten das, was hinten ankommt. Oder man verspricht sich einfach. Das geht bei Bach los "die Menge der himmlischen Haarscheren", über populäre Weihnachtslieder "da haben die Rosen Dornen getragen" bis zum Brahms-Requiem, "denn sie sollen geröstet werden". Bis bald im Fegefeuer!
A propos Weihnachtsoratorium: Vielleicht lag es an der schlampigen Aussprache der Wiener Sängerknaben oder meinem kindlichen Gemüt, aber ich habe mich immer gefragt, wer eigentlich Sankt Rudibald ist. Der Originaltext ist allerdings auch seltsam.
Manchmal retten einen auch eine gewisse Unschärfe - und exotische Sprachen. Bei einer schwedisch-deutschen Koproduktion befahl der Dirigent spontan eine auswendige schwedische Überraschungszugabe - den allseits beliebten "Sommarpsalm". Überraschend auch für den Chor. Ich habe den leisen Verdacht, daß spätestens ab der 2. Strophe auch die Schweden nur noch "bork, bork, bork" sangen. Bei Fremdsprachenproblemen darf man auch Judas Ischariot nicht auslassen, dem der überkorrekte Ian Bostridge eine Geschlechtsumwandlung verpaßte: "seiner Jünger eine…"
Bei einer Klavierprobe drehte sich der Pianist um und meinte: "Ist ja nett, wie Du das r rollst - aber es heißt trotzdem nicht 'Auf starkem Fittiche schwinget sich der Radler stolz'." - damit immerhin eine ökologisch außerst korrekte Arie. Weniger korrekt wäre es vielleicht, bei einer Hochzeit "Doch der Herr, er leitet die Irren recht" zu singen - aus unerfindlichen Gründen hat das Brautpaar diese schöne Lied dann auch abgelehnt.
Einer der kreativsten Verhörer überhaupt ist meine Schwester, Schöpferin des bekannten Schubert-Liedes "Das Hirn auf dem Felsen" (jedesmal, wenn ich das Lied sehe, muß ich an Piggy in Lord of the Flies denken). Neulich, am Telephon, zeigte sie sich äußerst irritiert über eine simple Mozart-Arie - "Rosa ist mein halbes Leben". Soundtrack zu "Legally Blonde"? Die Solistin machte daraus prompt "Rosa ist die halbe Leber..." A propos Zaïde - manchmal wünscht man sich gerade nuschelnde Sänger oder ein Libretto in einer möglichst exotischen Sprache - was soll man z. B. hiervon halten?
Herr und Freund!
Wie dank' ich dir,
lass mich deine Knie umfassen,
doch ich muss dich schnell verlassen,
denn ich brenne vor Begier.
Noch mehr randomisiert-sinnlose Zaïde-Zitate gibt es hier.

Donnerstag, 6. Mai 2010

Probieren geht über Studieren

Wenn die Lulu-Generalprobe der Met mit der Gruppenrunde kollidiert, muß man letztere eben verschieben. Glücklicherweise habe ich einen äußerst netten Chef. Die Karten dazu organisierte übrigens ein Metal-fanatischer Drummer aus der chemischen Fakultät, der keine Opern mag. Wieso ausgerechnet die Chemiker solche Verbindungen haben, bleibt noch herauszufinden.
Die Inszenierung (John Dexter 1977) frönt dem hier so beliebten opulenten Realismus mit üppigen Jugendstil-Interieurs und ist ansonsten, milde ausgedrückt, ehrwürdig bis leicht staubig. Wenn Lulu, die im Prolog als Schlange apostrophiert wurde, allerdings das halbe Stück mit roter Lockenperücke wie ein Pudel über die Bühne hoppelt, irritiert das schon etwas.
Eine dodekaphon geprägte Oper, noch dazu ein posthum vervollständigtes Fragment, als Apotheose einer moralbefreiten Dame, wobei jeder Akt mit Mord und Totschlag endet, mag vielleicht nicht gerade leichte Kost sein. Dennoch war Berg im tiefsten Inneren Spätromantiker - die erste Klangexplosion im Orchestergraben wehte dem Hörer alle mühsam angelesenen Reihen und Tropen aus dem Kopf und trotz aller Atonalität und kruden Handlung saß man da und genoß.
Die Tenöre hatten das Unglück, ihr Register mit dem Großteil des mächtigen Orchesters zu teilen und gingen das Problem fachspezifisch an: der Heldentenor (Gary Lehman als Alwa) stemmte, als habe er den Bizeps des Akrobaten verschluckt, während der Lyrische (Michael Schade als Maler/(n-word)) über weite Strecken kaum zu hören war. Zur Genugtuung darf er seinem heroischen Kollegen im dritten Akt den Schädel einschlagen, was meines Wissens opernhistorisch einmalig ist.
Keine Registerprobleme hatte Marlis Petersen in der Titelpartie: In der zwei- bis dreigestrichenen Oktave läßt sich ohnehin kaum ein Sopran von einem läppischen Symphonieorchester kleinkriegen - aber mit was für einer mühelosen Agilität, Schlankheit und Klarheit im Ton!
James Morris klingt vielleicht etwas kehliger als zu Hochzeiten, meistert aber sein Rollendebut als Dr. Schön mit großem rundem Bariton und grandseigneuralem Ausdruck. Leider konnte es es offensichtlich nicht verwinden, von einem Koloratursopran in den Rücken geschossen zu werden und ließ sich im dritten Akt (als Jack the Ripper) ziemlich schwarzbassig vertreten.
Anrührend und warm sang Anne Sofie von Otter als Geschwitz.

Außer dem Orchester in bunter Freizeitkleidung von halbleerem Haus machte sich das Faktum der Generalprobe wesentlich zweifach bemerkbar: was auch immer der Spotscheinwerferführer getrunken hat, ich möchte etwas abhaben - und Schigolch stolperte zu Beginn der letzten Szene im Dunkeln über einen Tisch, worauf Maestro Luisi und seine Mannen zurückgepfiffen werden mußten und die Akteure um einige Herren mit Handfeger, Kehrblech und Taschenlampen ergänzt wurden. Im Vergleich zur Radioübertragung vom folgenden Samstag könnte man noch anmerken, daß die Herren Schade und Morris sich in der Probe vielleicht etwas schonten, wohingegen Frau Petersen in der Aufführung an ein paar exponierten Stellen leichte Nerven zeigte.
Eine Live-Radioübertragung der Samstagsvorstellung (8.5., 19.00 MEZ) findet sich hoffentlich hier. Anhören!
Wir schließen mit Sir Andrew Davis:
"In fact, I love this opera so much I named my dog after it!"
Geht Günter Pichler eigentlich mit der Lyrischen Suite Gassi?

Sonntag, 2. Mai 2010

Meistersingerei im Opernhaus Zürich


Die Voraussetzungen waren in toto nicht die besten. Gerade eine Grippe hinter sich gebracht zu haben und dann die Meistersinger als Wiederaufnahme. Aber, um dies sogleich vorweg zu nehmen, ich war aufs Angenehmste überrascht in allen Belangen. Zunächst einmal eine unschöner Beginn: Wer kam eigentlich auf die – pardon – schwachsinnige Idee an der Abendkasse des Opernhauses Sozialamtsatmosphäre zu schaffen. Man zieht um seine vorbestellten Karten zu bekommen eine Nummer und wartet den Durchgang zum Restaurant Belcanto und zur Kulinarabteilung vor dem Bernhard-Theater blockierend bis diese Nummer mit dem amtstypischen Läutsignal aufgerufen wird. Dann darf am am Schalter sein Anleigen vortragen. Wenn man alsdann für eine Karte rund 250 SFR bezahlt hat, kommt man sich schon sehr, sehr – ich formuliere vorsichtig – komisch vor. Hier ließen sich doch sicher andere Lösungen finden?

Die Lehnhoffsche Inszenierung ist immer noch angenehm schlicht, nur in der Festwiesenszene etwas klassizistischer Pomp auf der Bühne. Der erste Akt sehr solide in einer Kirche, deren Bänke zur Singschule umgestellt wurden und eine Vielfältig einsetzbare Kanzel. Auch der zweite Aufzug überzeugte durchaus, eine einfache ins Arriere laufende Treppe, vor der Sachs sein Schustertischchen aufgestellt hat und von deren oberem Ende der Nachwächter (solide mit leicht fremdländischen Accent Tomasz Slawinski) die frühsommerliche Keilerei beendet. Sogar der ein oder andere Regieeinfall lockerte die Szenerie auf – auch wenn Walther und Eva sich nur im Kästchen des Maestro suggeritore verstecken und Lene aus der ersten Seitenloge interagiert. Der Dritte Akt im Hause Sachsens ist dann sehr mit Büchern belastet und gerät etwas in die Länge, aber das ist verzeihlich, weil der Übergang zur Festwiese erstaunlich nett gerät. Man hat selten erlebt, dass eine Bühne sich so anmutig weitet. Als sehr angenehm sei noch konstatiert, dass die Inszenierung auf irgendwelche mittlerweile sehr zur Üblichkeit gewordenen Nazibelehrungen verzichtet: Sachsen Bücher werden nicht verbrannt, Beckmesser ist kein chassidischer Jude und keine Saal-SS patroliert auf der Festwiese. Ob das Publikum soviel Glück bei Homoki auch gehabt hätte?

Das Dirigat Phillipe Jordans war eine rundum überzeugende Sache, schwungvoll und stilgerecht ging es zur Sache. Man verlor nie das Gefühl, im musikalischen Geschehen zu sitzen und hörte doch zugleich, mit wieviel Detailkenntnis und –bewusstsein der junge Maestro zu Werk geht. Einzig versäumte er es, im dritten Aufzug nach dem Wahnmonolog die orchestrale Fahrt wieder aufzunehmen, was dem Fluss und der Kurzweil bei der Liedtaufe doch sehr unzuträglich war und die Standfestigkeit der Sänger beanspruchte. Das Orchester zeigte sich in guter Verfassung, die in Zürich obligatorischen Hornflatulenzen fielen da nicht weiter ins Gewicht. Auffallend war der ausgezeichnete Bühnenkontakt des Grabens und seines Chefs; hoffen wir, dass Gatti und Luisi dass auch nur ansatzweise so hinbekommen, bisherige Testläufe verheißen nicht ausschließlich Gutes. Der Opernchor war gut einstudiert, eine gewisse Neigung zur Überlautstärke scheint derzeit unter Opernchören üblich. Ob das immer zum Vorteil gereicht, naja.

Die Sängerbesetzung konnte an diesem Abend durch die Bank überzeugen. Die Meistersinger waren durchweg mit alten Zürcher Bekannten besetzt, Cheyenne Davidsons Fritz Kothner zeichnete sich durch eine wohlbekannte, hupige hohle Kehle aus, ansonsten darf man keine Beanstandungen vorbringen – man hört das nirgendwo besser und netter. Matti Salminen als Veit Pogner wirkte etwas erschöpft und ließ die höheren Töne (Weise, Pogner und Eva) in bewährte Weise eher erdig angehen; er hat das schon besser gesungen, aber er war mir auch noch nie so sympathisch wie an diesem Abend – nun schuf ihn Gott zum reichen Mann, und ja, er gibt uns wie er kann. Möge das noch lange der Fall sein.

Edith Haller gab eine sehr blonde Eva, ihre Töne waren nicht immer auf der notierten Tonhöhe und sie neigt etwas zur Flächigkeit; was die Karriere ihr bringen wird, steht noch in den Sternen, vielleicht hat sie sich etwas zu rasch den großen Partien verschreiben lassen. Doch lassen wir das Kritteln – wer sollte gerade eine hübschere und sanglich rundere Eva geben? Wiebke Lehmhuhl ließ eine sehr weiche und gelenke Lene auf die Bühne treten, die aber im Gefecht zum Ausgang des zweiten Aktes durchaus Pfeffer und Feuer sprühen lassen konnte. Ihre reine und bei Bedarf sehr kräftige Stimme macht Hoffnung, auch wenn ihr die volle Fülle zum runden Mezzo noch ein kleines Bisschen fehlt.

Robert Dean Smith als Walther kann für sich ins Feld führen, dass es zu Zeit wenige Sänger gibt, die diese Partie wirklich adäquat beherrschen, und dass die Partie einfach extrem ungnädig ist. So konzedieren wir an diesem Abend seine verhärteten Zwischentöne, seine stentorhaften Anfälle nördlich des E und seine Affinität zum Quetschen. Man kann positiv feststellen: Er hat nicht nachhaltig gestört, und das ist für einen Stolzing dieser Tage schon eine ganze Menge. Das eigentliche Highlight des Abend und weder live noch auf Tonband/Festplatte/Plastik so von mir vernommen war Adrian Eröd als Sixtus Beckmesser. Mit einer absoluten Raumbeherrschung auf der Bühne und einem warmen, den Raum voll fassenden und tragenden Bariton trug er die Rolle des Stadtschreibers in eine neue gesangliche Dimension: Klarste Textverständlichkeit, absolute stilistische Sicherheit, nicht ein Hauch vom Hang, die Rolle in den Bereich der Lächerlichkeit zu führen, und vor allem sein Wille und seiner Fähigkeit zur gesanglichen Gestaltung lassen nur darum hoffen und bitten, ihn doch möglichst öfter an diesem Hause hören und sehen zu dürfen.

Bleibt noch das Schusterpärchen: Peter Sonn ist ein lustiger, äußerst textklarer David, der die buffonesken Fallstränge der Partie mit Bravour meistert. Er muss nicht schreien, er kann gestalterisch sicher die vielen und undankbaren Noten und Weisen mit lockerem Schmelz klingen lassen, eine Überforderung stand für seine noch etwas weiße Stimme an keiner Stelle zu befürchten. Anderes schien da für den Altmeister der Bass-Bariton-Partien zu gelten; Alfred Muff war eine ausgezeichneter Wotan, ein fast unerreichter Holländer und ein nie wieder erreichter Barak. Aber einen Sachs? Ich muss ihn für meine Zweifel um Verzeihung bitten. Im ersten Akt noch zurückhaltend singt er sich in die mörderische Partie des Schusterdichters und Stadtlieblings, die schon immer vorhandene Neigung zum Deklamieren der kurzen Noten kommt der Rolle geradezu bilderbuchmäßig zu Gute; spätestens mit dem Fliedermonolog war klar, dass hier ein wirklicher und bedeutender Hans Sachs auf der Bühne steht; allenfalls Struckmann wird derzeit Vergleichbares bieten können. Das Ende des dritten Aktes musste Muff zwar mit drei Sängerpastillen in Angriff nehmen, aber wer könnte ihm das bei dieser Partie auch verdenken? Volle Höhen und klare Sprache ließen da kleinere tonliche Höhenverfärbungen als kaum störend erscheinen. Was wollt ihr von den Meistern mehr?

Nach etwas mehr als 6 Stunden (inklusive zweimal etwa 35 min. Pause) war der Abend zu Ende und ich mit den Meistersingern von Nürnberg versöhnt, auch wenn einem der letzte Akt dann doch etwas Sitzfleisch abverlangte. Eine rundum runde Sache. Man versteht in Zürich Wagner zu geben, das lässt auf die nächste Saison mit Tannhäuser und Parsifal hoffen. Mögen wir nicht enttäuscht werden.


Rudi jazzt Beethoven mit den Wilden

Ohne romantisches Gesülze und mit viel Energie schmettert Rudolph Buchbinder alle fünf Klavierkonzerte an zwei Abenden vor die Ohren der Konstanzer zusammen mit der Südwestdeutschen Philharmonie. Zusätzlich hatte er die Leitung (O-Ton zum Orchester: "Ich bin kein Dirigent!") des Konzertes [Nr. 2, 3, 4 (Sa.) und Nr. 1, 5 (So.)].


Buchbinder überzeugt durch seine "aromantische" (nicht aromatische!) Spielweise, die vielleicht eine Art repräsentiert, wie Beethoven auch gespielt haben mag. Sehr wuchtige Akkorde, die für Sensible vielleicht zu geschlagen klingen, dafür entschädigt er mit hauchzarten Melodien an lyrischen Stellen.

Er unterbricht das Orchester in der Generalprobe für die Nummern 1 und 5 nur einmal und zwar im Rondo des C-Dur Konzertes, kurz nach dem "Jazz"-Thema (erstes Klavierthema nach dem zweiten mal Thema A im Orchester, siehe Abbildung*).



Daraufhin spielt er den Anfang der "Mondschein-Sonate" und verjazzt diese, dann das gleiche mit dem Anfang von Schumanns Klavierkonzert. Er gibt Anweisungen an das Orchester und sie beginnen noch einmal an der Stelle. Man möchte synkopisch mit schnippen, wenn man das hört!

Den selben Effekt erzielt er im Finalsatz des Es-Dur Konzerts in der B-Dur Stelle (siehe Abbildung*). Eine solche Artikulation, wie Buchbinder sie ausübt, ist eindeutig an Jazz angelehnt.



Ingesamt spielt Buchbinder mit viel Brillanz und wenig Brimborium, das heißt wenig affektierte Bewegungen und Romantifizierungen. Trotz seiner Aufgabe als Dirigent strahlt er eine unglaubliche Ruhe und Sicherheit aus und schafft eine besonders effiziente Art der Kommunikation mit dem Orchester.

Alles in allem ein sehr bereicherndes Konzert und der sympathische Herr, der am Ende der Konzerte auch signierte, bekam stehende Ovationen vom Gros des Publikums!


*Quelle: http:/IMSLP.org