"Keine Sorge, wir hören auf zu reden, wenn sie anfangen zu spielen!", sagte mein schmächtiger Nachbar sonnig, während er mit seinem Ellbogen vor meinem Gesicht herumfuhrwerkte und sich lautstark über meinen Kopf hinweg mit dem Nachbarn auf der anderen Seite unterhielt. Tatsächlich hielt er dann auch brav den Mund - zog aber seine Schuhe aus, hampelte auf seinem Sitz herum und kratzte sich fortwährend, als sei er ein flohgeplagter Zweimetermann in der Transatlantik-Touristenklasse.
Das nun nicht etwa auf dem Great Lawn, sondern in der noblen Avery Fisher Hall, wo die NY Philharmonics unter Alan Gilbert Mahler im Sonderangebot spielten.
Glücklicherweise ist die Sechste (die mit dem Hammer) nicht direkt eine Kammersymphonie.
Der Titel "Tragische" ist Mahler anscheinend herausgerutscht, bevor er sich daran erinnerte, daß er keine Programmmusik mehr schrieb, ist aber angemessen. Laut Alma Mahler schrieb er sie gewissermaßen als Begleitmusik für die Schicksalsschläge (siehe Hammer), die ihn im folgenden Jahr treffen sollten. Des Weiteren interpretiert Frau Mahler das einzige etwas hoffnungsvollere Thema des Werks - das Seitenthema des Kopfsatzes - kurzerhand als Hommage an sie selbst. Nun ja. De mortuis…
Ansonsten gibt es kompromißlose Mahlereien, von brutalen Märschen über grell satirische Einwürfe zu pervertierten Chorälen, einen überraschend schlicht-lyrischen langsamen Satz und eines der unkomischsten Scherzi, das ich je gehört habe - Satztitel "Wuchtig". Selbst das altväterische Tänzchen im Trio marschierte mit den strengen Streichertritten des Kopfsatzes.
'Tragisch' ist im Wesentlichen die Abkehr vom Wunderhorn-Kosmos der frühen Symphonien und die Verweigerung der finalen Apotheose: das Werk endet nach einem ausschweifenden - und leicht chaotischen - Finalsatz abrupt und düster. Man spielte durchweg grimmig, vielleicht stellenweise etwas zu grimmig.
Wenn sie gut drauf sind, ist gegen die NYPhil nichts einzuwenden - und wer bei Mahlers Orchestrierung nicht gut drauf ist, dem ist auch sonst nicht zu helfen. Das reichte von den sehr prominenten wacker grummelnden Kontrabässen bis zu den durchweg schönen Bläsersoli - wann hört man sonst mal eines von der Baßtuba?
Der NYPhil-Schlagzeuger für alle Fälle schlenderte im Hintergrund herum, ging zwischendurch scheinbar eine
rauchen, oder vielleicht doch eher die (eher zu diskreten) Kuhglocken betätigen, stand dann aber mit hocherhobenem Riesenschlegel bereit und drosch auf seine Holzkiste ein, daß der Saal bebte.
Schon den ganzen Tag hatte das Radio Sturmböen, Sintfluten und Verkehrchaos für den Abend angekündigt.
Draußen dräuten ein rotwolkiger Himmel und das von der Wolkendecke geköpfte Empire State Building. Nachts regnete es wohl ein bißchen. Mahler schlägt Wetter. Hammermäßig.
Mittwoch, 13. Oktober 2010
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