Reichlich früh galt es sich auf den Weg zu machen, aber für alle sechs Kantaten und Riccardo Chailly nimmt man in der Vorweihnachtszeit schon ganz gerne seine vier Reifen und zwei Begleiterinnen in die Hände und macht sich auf in die Tonhalle. Um es gleich vorweg zu nehmen: Es hat sich gelohnt, ich habe bisher in toto weder auf der Platte noch live ein besseres Weihnachtsoratorium des Johann Sebastian Bach gehört.
Martin Gantner lag mit Grippe im Bett, an seiner Stelle sang Reinhard Mayr mit viel Engagement die Basspartie, es sei ihm verziehen, dass er dafür etwas weniger Stimme hatte und mit den Ansichten des Maestro hinsichtlich des Tempos nicht immer konform zu sein schien. Er phrasierte klug und setzte seine Stimme - der freundlichen Akkustik sei es gedankt - oratoriengerecht ein, wenn auch gesagt sein soll, dass mangelndes Volumen nicht störend sein muss, solange der Sänger nicht versucht über ein pumpendes "passer par gorge" solches außerhalb der Stütze zu erzeugen.
Johannes Chum konnte als Tenor absolut überzeugen, hat man eine Vorliebe für idiomatischere Stimmen, mag man sein etwas papyrales tenorales Timbre beklagen, andererseits dürften sich Stimmen mit mehr Erdung recht schnell in den Bachschen Koloraturen totgelaufen haben. "Fisteln" kann man dem jungen Tenor sicher nicht vorwerfen, und die Stimme kann ja im Laufe der Zeit noch etwas wachsen. Textnah die Rezitative und technisch brilliant und doch berührend die Arienteile.
Die undankbarste Partie im Bachschen Weihnachtsspiel ist die Sopranpartie: Erst sitzt man eine Ewigkeit, dann soll man als 13. Ton überhaupt ein hohes A singen - und dann wieder ewig nichts, bis man schließlich durch eine Duett mit dem Bass erlöst wird. Martina Janková hat all dies getan, und zwar ganz wunderbar: Man wird in großer Freude durch das A entrückt von einer glockenklaren Stimme, die wenn auch nicht groß, doch so ausgezeichnet geführt ist, dass man Rainhard Mayr fast ein bisschen beneidet, dass er ein Duett mit diesem reinen Läuten singen darf.
Mehr ein schlankes Mezzofließen als einen reißenden Alto steuert Wiebke Lehmkuhl dem Sängerquartett bei, und das tut dem Oratorium sehr gut: Die Stimme ist musizierender Teil des Orchesters und wird nicht als Fremdkörper wahrgenommen, technisch einwandfrei und locker gesungen verlieren die Altarien der ersten Teile ihre subjektiven Längen, ohne auch nur einen Hauch ihrer Sinnlichkeit einzubüßen.
Ein wirkliches Erlebnis war die Darbietung des Dresdner Kammerchores: Technisch über jeden Zweifel erhaben mit vollen und jungen Stimmen, perfekte Koordination, intuitives Aufeinandereingestelltsein und für jeden Fingerzeig des Maestro sofort auf dem Plan. Einzig die Tenormannschaft fiel - diese Kritik grenzt jetzt an Sophismus - etwas durch hechelige Maschinengewehrgeräusche in raschen Koloraturen auf; die ist sicherlich der Höhe der Töne geschuldet und den nicht unbedingt Hollraiserschen Tempi des Dirigenten.
Das Orchestra La Scintilla (sagen wir die Barock-Combo des Opernorchesters Zürch) zeigte eine im Ganzen geschlossene Leistung auf sehr hohem Niveau: Reaktionsschnell und sicher im Zusammenspiel wurde Bach eine nahezu sehr schöne Grundierung geschenkt. Es solllen allerdings doch drei Dinge angemerkt sein: Man hört einfach, dass nicht überall Leute spielen, die absolut auf die barocke Spielweise eingestellt sind, so dass hier und da Töne begegnen, die sich in der Partitur nicht oder an anderer Stelle wiederfinden - aber wie gesagt: Kritik auf allerhöchstem Niveau, man dürfte das selten besser zu hören bekommen. Und dann: Warum muss Ada Pesch hier mitspielen? Seit einem abgrundtiefen Violin-Solo in Massenets Werther verfolgt mich dieser drahtige wackelige Geigenton, da muss sich doch Besseres finden lassen - was man übrigens im Duett mit Kea Hohbach (Violine 2) deutlich hören konnte. Schließlich konnte man bei Simon Lilly an der ersten Trompete nie ganz genau sagen, ob er nun Zierwerk oder einfach nur voraus oder hinterher spielte, in Zukunft doch einfach ein paar Ventile mehr oder jemanden, der es eben kann.
Maestro absoluto nennen die Mailänder Riccardo Chailly und hätten ihn so gerne für die Scala gehabt, dass er nicht wollte, spricht für ihn, wie alles andere auch: Absolute Präzision, volles Textbewusstsein und ein beängstigendes Gespür für den natürlich Atem der Musik haben mich persönlich wieder einmal zutiefst beeindruckt. Trotz der doch deutlichen zeitlichen Ausdehnung der sechs Kantaten wird man von Chaillys Musizieren derart aufgesaugt, dass man am Ende fast böse ist, dass es nicht weitergeht. Im Ganzen musiziert er recht flott, aber ohne die technischen Grenzen seiner Musiker auszureizen, und vor allem nicht aus Prinzip: Jedes Stück bekommt seinen eigenen Pulsschlag, der sich wie durch ein Wunder auf den Saal überträgt und die Musik fast greifbar in den Raum stellt. So wunderbar und so ergreifend habe ich vor allem die hypertrophen Bachschen Choräle noch nie musiziert gehört: Vom strahlend, ja gleisend anbrechenden Morgenlicht bis zum in Selbstaufgabe verzückenden Krippenlied, totale Musikalität. Oh möge er doch neuer GMD des Opernhauses werden!
Als kleiner Wehmutstropfen darf bemerkt sein, dass es von organisatorischer geistiger Insuffizienz zeugt, wenn man gerade mal 300 Programme bereit hält und die 1100 Konzertbesucher bei Kartenpreisen um die 120 SFR nur durch finstere Umwege zu Programmen kommen lässt. Das sollte sich das Opernhaus in Zukunft doch bitte nicht mehr leisten, auch wenn man außer Haus in der Tonhalle spielt. Aber fragt man danach, wenn man am Ende doch noch mit Programm verzückt in der Poltronissima sitzt und sich beschwingt auf den sonntäglichen Heimweg macht?
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1 Kommentar:
Wir wissen ja eigentlich alle, daß die Oper Zürich verflixt gut ist - trotzdem möchte ich nochmal lobend erwähnen, daß drei der Solisten Hausbesetzung und keine reinen Barockspezialisten waren. Bravi!
Kleine ästhetisch-visuelle Kritik: Der Chor hätte zu roten Schals und Fliegen dringend noch Nikolausmützen oder etwas Ähnliches gebraucht.
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